Je oller, je…

Einmal im Jahr gerate ich in eine Runde Menschen, die ich nicht kenne, genauer gesagt, ich kenne nur eine Person, nämlich die Gastgeberin. So eine Party – wenn man denn diesen Ausdruck für eine Geburtstagsfeier von jemandem, der in den Siebzigern ist, gebrauchen will – kann ganz schön anstrengend sein, weil ja jeder jeden kennt, nur keiner kennt mich.
Es ist nicht ganz einfach, da einen oder mehrere Gesprächspartner zu finden und man ist den Leuten ausgeliefert, neben denen man zu sitzen kommt. (By the way: Satzkonstruktionen mit ‚zu’ liebt der Berliner, z.B.: ‚Ich habe da noch einen Stapel Deutscharbeiten zu liegen.‘ Strange! )

Letztes Jahr – ich erinnere mich genau – beschwerte sich die Dame neben mir ziemlich langstielig darüber, dass sie immer wieder und wieder Zeugin von Gesprächen werden müsse, die sie nicht hören wolle.
Die Ärmste.
Sie meinte natürlich Handygespräche in der U-Bahn, im Bus, im Wartezimmer und so. Ich konnte ihr da nur bedingt zustimmen, mich nervt das zwar auch, aber hauptsächlich deswegen, weil ich nur EINE Hälfte des Gesprächs mitbekomme und mir den Rest zusammenreimen muss.
Das behielt ich aber vorsichtshalber für mich.
Überhaupt Handy, also nein… es mischten sich damals noch mehr Gäste in das Gespräch ein. Jeder hätte ja ständig nur noch so ein Gerät in der Hand oder am Ohr, entsetzlich, ein Verfall der Sitten, besonders bei Jugendlichen, das wäre ja schon fast krankhaft – wo blieben die direkten menschlichen Kontakte, wo die echten Emotionen, wo das wahre Miteinander? Ach, wie anders war es doch damals, als wir noch jung waren. Wir haben uns noch Briefe geschrieben und uns monatelang vorher fest verabredet und es hat auch geklappt…
Pöh, dachte ich! So ein Quatsch. Als ob das Spaß gemacht hätte! Als Siebzehnjährige musste ich meinem Freund jeden Tag einen Brief schreiben, anders ging es nicht, der war nämlich im Internat und kam nur am Wochenende nach Hause. Täglich hoffte ich, er hätte geantwortet und wenn kein Brief im Kasten lag, dann war meine Laune im Keller. Telefonieren konnten wir auch nicht, weil das in dem Scheißinternat nicht ging.
Und? Fand ich das toll? Ja, ganz toll! Super!
Mit Kusshand hätte ich whatsapp, facebook und was noch so alles gibt, genommen.
Naja. Ich habe auch dazu nicht viel gesagt. Hätte ja eh keinen Sinn gehabt. Ich bin aufs Klo gegangen und habe meine neuen Mitteilungen auf dem Handy gelesen und war sehr zufrieden, dass ich überhaupt welche bekomme.

Dieses Jahr war es genau wie letztes Jahr. Die Dame zur Rechten war sehr gesprächig und ich hörte mir Vorträge über ihre Hobbys an. Gegen zehn zückte eine smarte Endsechzigerin links von mir ihr Handy und zeigte es ihren Sitznachbarn. Ein funkelnagelneues iPhone6. Zu Weihnachten bekommen, wahrscheinlich. Aber Madame hatte Probleme, sie kam mit dem Teil nicht klar und bat um Hilfe.
Schwuppdiwupp waren die Männer ringsherum dabei. Es wurde getouchscreent, geäppt und gescrollt, was das Zeug hielt.

Plötzlich ertönte ein Weihnachtslied. Die Stimme der Gastgeberin. Aber die saß mir stumm gegenüber und nippte gerade an ihrem Glas Roten. Ach so, die Klänge entfleuchten einem Galaxy s5 und der weißhaarige Besitzer schilderte stolz, dass sie ihm auf diese Weise einen lieben Gruß zum Feste geschickt hätte. Originell, oder?
Rechts von mir kicherten zwei Omis, die sich ganz ungeniert Fotos ihrer Enkel zeigten. Natürlich keine aus Papier.
Und am Fenster machten zwei Damen im Glitzeroutfit ein Selfie von sich. Das wurde dann gleich bei facebook gepostet, nehme ich an.
Ich staunte nicht schlecht und beschloss zu gehen, bevor die Party völlig ins Seelenlose abdriftete.

Schon im Mantel rief ich von der Tür her: „Tschüs und viel Spaß noch!“
Aber keiner würdigte mich mehr auch nur eines Blickes.

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Zweite Reihe

Es macht mir ein bisschen Sorge, dass so viel passiert.
Also, ich meine, es passiert so viel, seitdem ich wieder blogge.
Ich denke dabei gar nicht an die große Politik, sondern…
Obwohl – in der großen Politik ist ja eigentlich auch schwer was los. 2015 ist doch erst vier Wochen alt – und was gab es nicht schon alles in dieser kurzen Zeit. Da kommt ja kein Mensch mehr mit.
Nein, ich dachte jetzt mehr an mein private life. (Private life hört sich irgendwie besser an als Privatleben, oder?)
Jeden Tag gibt’s einen neuen Aufreger. Oder fällt mir das bloß mehr auf? Für den Blog ist es ja gut, aber nicht für meine Nerven.

Zum Beispiel vorgestern Abend: Ich kam so kurz nach sieben aus dem Fitnessstudio und schlich in Richtung Auto – fix und foxi, die Haare noch halb nass und natürlich ohne Mütze. Meine Generation hat ja noch in den Genen, dass Mütze uncool ist. Bei mir ist das jedenfalls so.
Jetzt nichts wie schnell nach Hause, war der Plan. Unterwegs irgendwo kurz anhalten und Brot kaufen und irgendwas Nettes, Dickmachendes und dann ab auf die Couch, den vermaledeiten Socken für das Mumpi fertig stricken und Dschungelcamp gucken. Aber nur, wenn die nicht wieder so ein Ekelzeug essen…

Mein Auto parkte in einer langen Autoschlange an einer sehr befahrenen Straße. Rein ins Auto, Blick nach hinten und los. Ach nee, geht nicht – man sieht ja gar nichts. Neben meinem Hinterparker steht ein fetter Kleintransporter in zweiter Reihe.
Zweite – Reihe – Parken ist in Berlin voll angesagt. Was soll man denn auch machen, wenn man keinen Parkplatz findet? MUSS man doch in zweiter Reihe stehen, wa?
Ich warte also ein bisschen, kommt da was? Nee, scheint alles frei zu sein. Also schiebe ich mich wie so langsam wie eine Schnecke, die bei der Schneckenolympiade die Goldmedaille im Übertriebenlangsamkriechen gewinnen will, ein Stückchen vor. Höchstens einen halben Meter, ich schwöre. Das knallt’s auch schon – ein winziges Äutochen ist mit einem absurden Schlenker hinter dem Sprinter hervorgeschossen und schrammt mit seiner ganzen rechten Seite an meinem vorderen Kotflügel entlang.
Bingo!

Ade gemütliche Couch, warme Decke, trockene Haare, Rotwein und Walter.

Eine Frau krabbelt aus dem Winzauto und setzt schon ihr Handy in Gang. „Ich rufe die Polizei an! Nichts gegen Sie, aber ich bin Rentnerin mit einer gaaanz kleinen Rente! Einer GANZ kleinen Rente! Sie sind auch keine Millionärin, oder?“
Ich schüttle ergeben mein feuchtes Haupt und nehme den Schaden in Augenschein – Millionärin hin oder her. Ohne meinen Altours sage ich sowieso nichts…

Boah! Wie kalt das ist! Und jetzt auf die Polizei warten. Das kann dauern. Bestimmt sind die alle auf irgendeiner Demo… Scheiß-Pegida!

Meine Macke ist marginal. Echt. Ein bisschen Lack abgeschürft an einer kleinen Stelle. Lohnt sich nicht mal die Versicherung zu bemühen, schätze ich. Ich habe ja jetzt Erfahrung! Ich bin stolz auf mein Auto. Dieser Lack! Phänomenal!
Der Daihatsu hat mehr abbekommen. Aus gaaaaanzer Länge angeschrappt. Pech. Die Frau, sie heißt übrigens Heidelore, seufzt und wirft mir vorwurfsvolle Blicke zu.

Zu Recht, wie sich rausstellt, als nach 55 Minuten die Ordnungsmacht kommt, bestehend aus einer netten Frau und einem betont mildem jungen Mann. Er spricht mit uns, als wären wir geistlich zurückgebliebene Kleinkinder. Soll sicher deeskalierend wirken, ist aber bei Heidelore und mir nicht nötig. Wir haben uns fast schon angefreundet, haben uns eine halbe Tüte Wasabi-Erdnüsse (aus meinem Handschuhfach) und einen Schokoladenriegel (Vollmilch-Nuss, aus ihrer Handtasche) geteilt und auf die anderen Autofahrer geschimpft, die sich über das Verkehrshindernis, das wir darstellen, aufregen, laut hupen und blinken..

Ich sei schuld, sagt der milde Polizist. Ich hätte meine besondere Sorgfaltspflicht missachtet, als ich mich aus dem ruhenden in den fließenden Verkehr einfädelte. Ja, er weiß, ich konnte nichts sehen, aber so nun mal die Gesetzeslage.
Heidelore triumphiert und ist nicht mehr meine Freundin.

Eben war ich in der Werkstatt. 300 Euro kostet der Spaß.

Ich glaube, ich hör auf zu bloggen. Wird mir zu teuer. So wird das ja nie was mit der Million!

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Schluss!

Überall in der Stadt: Sale, Sale, Sale!
Aber so schlimm war es gestern nachmittag bei Karstadt nicht – ein bisschen voller als sonst vielleicht. Jedenfalls dachte ich das zuerst und außerdem wollte ich auch nur in die Buchabteilung im Erdgeschoss.

Wie bin ich überhaupt in den ersten Stock geraten?
Und warum bin ich da hin? Ich muss wie in Trance die Rolltreppe hoch gefahren sein.

Wenn ich schon hier oben bin, kann ich ja auch mal bei den Klamotten vorbeisehen, dachte ich. Eine kleine Markterhebung, sozusagen.
Kaufen? Nein, ich kaufe nichts, ich habe genug zum Anziehen. Wenn ich allein diese
elenden Schlangen vor den Kassen sehe – total abtörnend.

Okay, einmal rasch durch die Gänge. Bei dieser Reizüberflutung nimmt man sowieso nichts richtig wahr.

Stop! Ganz chick, dieser Pullover. Mal was anderes.
Aber Größe M? Ob der passt? Bestimmt nicht. Der sieht so aus, als ob er klein ausfiele.
Wie heißt das nochmal in dem Lied von Ich und Ich? „Wir alle sind aus Sternenstaub“.
Alle, bloß ich nicht. Ich bin aus Mondstaub, ich nehme immer zu und ab.
Pullover kann man eigentlich nicht zu viele haben. Und ist der Mond nicht auch ein Stern?
Was kostet denn das Teil? Ah, runtergesetzt von 69 auf 29 Euro. Nicht schlecht.
Also, den Pulli könnte ich eventuell anprobieren.
Aber nur, wenn ich SOFORT eine leere Kabine finden! Wenn ich warten muss, hänge ich ihn wieder zurück.
Da, in der Ecke! Da wird was frei.

Was soll ich sagen: Alles war gut!
Der Pullover passte wie angegossen und er kostete sogar nur 17,99.

Leichtsinnig geworden, machte ich noch einen Abstecher in die Schuhabteilung.
Wenn schon, denn schon.
Hier war allerdings die Hölle los. Richtig Schlussverkauf, wie man ihn sich vorstellt. – Schuhe und Kartons flogen überall herum, so als wäre seit Tagen nicht mehr aufgeräumt worden. Mehrere Verkäuferinnen arbeiteten verbissen, aber sinnlos gegen das Chaos an.
Enge, Gedrängel, kein Platz, kein Stuhl. Grässlich.
Aber mir fielen – ohne dass ich danach gesucht hätte – sofort die Boots von Mjus in Auge. Die, die mir im November zu teuer waren und später, als ich sie doch wollte, ausverkauft.
Sie waren jetzt stark reduziert und es gab auch nur genau ein Paar. Wundersamerweise in meiner Größe. Aber ich zögerte. Was war passiert? War die Liebe abgekühlt? Irgendwie schon. Die Zeit hatte gegen sie gearbeitet.
Trotzdem streckte ich die Hand aus und wollte …
ZACK!
Eine junge Frau schnappte sie mir vor den Nase weg. Sie schleppt ihre Beute sofort zur Wasserstelle… Quatsch, zur Kasse.

Pech. Aber Geld gespart.

Und jetzt los: Anstellen, den Pulli bezahlen und dann nichts wie raus hier.

An der Kasse war es fürchterlich voll. Dieses Schlange-Stehen! Dieses Gedrängel! Total nervig. Ich erwog schon, den Pullover zurückzubringen.
Da sagte die junge Frau hinter mir streng zu ihrem quengeligen Kleinkind:

„Ey Jerimy, Schluss! Chill ma’ deine Basis!“

Na, wenn das kein schönes Motto ist! Also – nicht nur für den Schlussverkauf!

Jeremy hat’s leider nicht verstanden.

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Yorckstraße

Es ist kalt in Berlin. Ich stehe im eisigen Durchzug auf dem offenen Bahnsteig und die S-Bahn kommt und kommt nicht – was müssen die auch jetzt mitten im Winter diesen blöden Tunnel sanieren!
Vielleicht ist es hinter dem Kiosk etwas wärmer.
Auf die Idee, sich da zu verkriechen, sind noch mehr Leute gekommen.
Ein Pärchen zum Beispiel, das sich händchenhaltend aneinander fest hält. Er hat eine Bierflasche in der freien Hand, sie eine Zigarette. Er lässt sie ab und zu einen Schluck nehmen und sie schiebt ihm dann im Gegenzug ihre Zigarette zwischen die Lippen. Sieht fürsorglich und liebevoll aus, wie die miteinander umgehen.
Obwohl – kaltes Bier bei diesen Temperaturen und dann schon morgens um zehn… das kann ja nicht gut sein. Und das mit dem Glimmstengel ist weiß Gott auch nicht optimal, gefällt mir aber besser, denn der wärmt vielleicht ein bisschen. Die beiden sind nämlich nicht gerade der Jahreszeit entsprechend angezogen. Diese dünne hellblaue Plastikjacke von ihr und dann auch noch Stoffturnschuhe! Er hat wenigstens eine Mütze auf dem glatzköpfigen Schädel. Aber die trägt er bestimmt auch im Sommer, ohne Mütze geht man ja heutzutage nicht mehr.
„Hast du Fahrschein?“ fragt die Frau und hustet eine Runde. Sie schmeißt die brennende Kippe vor sich auf den Bahnsteig, tritt mit einem Fuß ein bisschen sinnlos darauf herum und haucht in die Hände. Handschuhe hat sie auch keine.
„Wat? Fahrschein? Seit wann koof ick’n Fahrschein?!“ Der Mann lacht, schüttelt den Kopf und nimmt einen tiefen Zug aus der Pulle. Dabei schielt er mich irgendwie Beifall heischend an.
Ich wüsste nicht, aus welchem Grund ich applaudieren sollte und stiere trübe vor mich hin.
Jetzt fahren die auch noch schwarz!

„Is noch wat drinne?“ fragt die Frau und zeigt auf die Flasche.
„Kleener Schluck. Hier, kann’ste austrinken!“

Aber da kommt die Bahn. Na endlich. Wurde aber auch Zeit. Wir stürzen zur Tür, das heißt, ich WILL stürzen, lasse dann aber das Paar vor.
Der Frau geht ziemlich langsam und der Mann humpelt.

Na ja, sie ist aber bestimmt auch schon Ende Siebzig und er sicher weit in den Achtzigern.

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Nachtrag

Ein Telefongespräch, das mit „Mama, reg dich nicht auf…,“ beginnt, bringt mich sofort von Null Auf Hundert.
Tochter Nr. Eins – nennen wir sie Marie – fügt rücksichtsvollerweise noch einige weitere Beschwichtigungsformeln hinzu, bevor sie ENDLICH zur Sache zu kommt:
„Also, wir standen da so am Straßenrand und dann kamen die und dann flog auf einmal eine Bierflasche und ich hab sie an den Kopf bekommen.“

Ja, sie war im Krankenhaus. Natürlich mit dem Krankenwagen. Polizei war eh schon da. Ziemlich viel Polizei sogar.
Gehirnerschütterung leider, eine dicke Beule auf der Stirn, ein blaues Auge und kleine Schnittwunden im Gesicht – die sind von der Brille, die ist nämlich hinüber. Geröntgt wurde sie auch. Aber alles ok. Das Jochbein ist nicht zertrümmert, wie der Arzt befürchtete.
Morgen soll sie noch mal in die Klinik, diesmal zu den Augenärzten. Wegen der Schwellung konnten die nämlich bislang nicht viel vom Auge sehen.
Nein, arbeiten gehen kann sie etwa eine Woche lang nicht. Ihr ist ein bisschen schlecht, der Kopf brummt, das zugeschwollene Auge schmerzt, die Schnittwunden sind zupflastert, sie sieht megascheiße aus, aber sonst ist alles ok.

Na, danke schön auch.

Ich versuche mich zu fassen, schwinge mich sofort ins Auto und brettere zu ihr, um den Schaden zu besichtigen.
Marie sieht ganz fürchterlich aus. Wie zusammengeschlagen.
Das arme Kind! Ich kann gar nicht hingucken.

Zum Glück ist inzwischen alles gut verheilt. Wir haben eine neue Brille gekauft, das Auge ist okay, auf der Stirn fühlt man noch eine kleine Verhärtung und eine Narbe neben der Nase wird wohl bleiben. Leider.
Die Polizei ermittelt, aber viel Hoffnung haben sie nicht. Es war eben schon sehr dunkel, auch auf dem Video. Vielleicht bringen die Genspuren an der Flasche etwas.

Ach so… ich hab‘ ja ganz vergessen zu erzählen, wer die Flasche geworfen hat.
Na ja, es war ein Teilnehmer eines Abendspaziergangs in Berlin-Marzahn. So ein Gida-Ableger. Die protestieren doch da seit Oktober oder November gegen die neue Unterkunft für Flüchtlinge.

Der Vorfall ist nun schon ein paar Wochen her. Fast vergessen.

Aber als ich gestern die Bilder aus Leipzig sah….

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Liebe Person

„Guck mal!“ Meine Tochter Luise wedelt mit einem Heft im Taschenbuchformat vor meiner Nase herum.
„Weißt du vielleicht, was das ist? Lag heute im Briefkasten!“
„Ein Reader’s Digest! Was? Das gibt’s noch?“ Ich bin platt.
Als Kind habe ich alles gelesen, was mir in die Finger kam – sogar die stinklangweilige katholische Kirchenzeitung – und diesen Reader’s Digest habe ich verschlungen. Onkel Franz – der war Buchhändler in Düsseldorf – brachte ab und zu ganze Stöße davon mit. Wahrscheinlich unverkaufte Exemplare. Ich erinnere mich, dass ich die Hefte oft nachts im Schein einer Taschenlampe las, denn meine Eltern bestanden darauf, dass ich ab einer bestimmten Uhrzeit zu schlafen hatte – sehr lästig.

„Hm.“ Luise blättert und liest kurz hier und da. „Naja… finde ich jetzt nicht besonders spannend.“
„Gib mal her!“ Ich blättere auch und lege das Magazin gleich wieder aus der Hand. „Langweilig!“
Ich glaube, ich fand es damals toll, weil es so amerikanisch war und weil es in den Geschichten und Berichten irgendwie ähnlich zuging wie bei ‚Lassie‘ und ‚Fury‘.

Luise studiert den Adressenaufkleber auf dem transparenten Briefumschlag. „Seltsam“, sagt sie, „die Adresse stimmt, aber mein Name ist ja so was von fasch.“
Liese Neumann steht da, dabei heißt meine Tochter L-u-ise. Kein Mensch ist bisher auf Idee gekommen, sie Liese zu nennen. Und das ist gut so. Von ihrem Nachnamen fehlt die Hälfte, nämlich der Bindestrich und ihr Mädchenname.
„Komisch! Naja, ist vielleicht Werbung,“ sagt Luise und reicht das Heft dem Mumpikind, das sich damit auf dem nächsten Teppich wälzt und es ein bisschen zerrupft.

Gestern kam nun das zweite Heft.
„Soll das jetzt zur Gewohnheit werden?“, frage ich.
„Ich weiß auch nicht! Das ist doch nicht koscher! Nachher soll ich das auch noch bezahlen.“
Luise beschließt einzugreifen. Sie googelt und findet bei der Verbraucherzentrale den Tipp, nicht auf Werbepost dieses Unternehmens zu reagieren.
Aber Luise schreibt dem Verlag eine Email und bittet darum, von der Zusendung weiterer Exemplare abzusehen. Schließlich habe sie sie nicht bestellt.

Die Antwort kommt schon gegen Abend: Readers Digest’s teilt der lieben ‚Frau Liese Neumann‘ sinngemäß mit, alles wäre im grünen Bereich – es handele sich bei der Lieferung erfreulicherweise um ein ‚Geschenk’. Eine liebe Person habe, weshalb auch immer, ein Jahresabo für sie gekauft.

Hä? Wir sehen uns perplex an.

„Niemals!“ Luise ist empört. „ Die wollen mich wohl linken! Niemand, den ich kenne, würde so was Sinnloses tun! NIEMAND! Und außerdem… dieser falsche Name! Meine Freunde wissen, wie ich heiße!““
Sie schreibt eine zweite Email um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen UND natürlich, um den Namen der’lieben Person‘ zu ergründen…

Auf eine Antwort warten wir noch…

Deshalb: Sollte das eventuell einer von euch bestellt haben???
Falls ja, bitte sofort bei mir melden!

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Hartes Schicksal

Vor dem angesagten Bäcker in meiner Straße steht samstags immer eine lange Schlange auf der Straße. Ja, richtig gelesen: Auf der Straße! Wie früher im Osten.
Unglaublich.
Ich spiele da nicht mit, denn soooo toll sind die Brötchen und das Baguette ja nun auch nicht. Und dann diese Verkäuferinnen… die sprechen nur Englisch und haben keine Ahnung von nichts.
Gut, der Bäcker nimmt wohl irgend ein besonderes Mehl – eben alles original Frankreich, wie sinngemäß mit Kreide auf der Tafel an der Hauswand steht und das soll den großen Unterschied machen – aber trotzdem.
Schlange stehen tu ich nicht. Schlange stehen hasse ich.

Ich gehe lieber gleich in die kleine türkische Bäckerei schräg gegenüber. Deren Erzeugnisse fallen zwar gegen die vom Franzmann etwas ab, aber was soll’s. Dafür ist immer gute Stimmung im Laden.
Die Verkäuferin – sie heißt Merve – plaudert in korrektem Deutsch/Türkisch/Deutschtürkisch mit den Kunden, je nach Herkunft und bedient nebenher umsichtig, kocht Kaffee, kassiert, putzt und isst unaufhörlich. Echt, immer, wenn ich reinkomme, liegt ein angebissenes Teilchen in ihrer Nähe. Dabei denkt man doch, dass so eine Bäckereifachverkäuferin nur noch saure Gurken und Sucuk mag.

Der Mann vor mir bestellt eine Wagenladung Brötchen. Merve verschwindet kauend im Hintergrund, Richtung Backautomat. Das kann dauern. Mist. Doch warten.

Zwei junge Frauen, eine mit Kinderwagen, die andere schwanger, trinken Kaffee an einem der drei runden Tischchen.

„Wie findest du Tscholina?“
„Neeee…“
„Und Anschelina?“
„Nee, bloß nix mit –lina hinten!“
„Warum nicht?“
„ Meine Schwiegermutter….“
„???“
„Paulina!“
„Ach so.“

Merve erscheint wieder auf der Bildfläche. Sie packt die Brötchen in mehrere Tüten und ruft: „ Bianca, wie findest du Sila?“
„Neee,“ sagt die Schwangere. „Nix Türkisches.“
Der Mann vor mir zieht mit seiner geballten Ladung Brötchen ab.
Jetzt bin ich dran.

Ich will aber noch gar nicht dran sein, ich will wissen, wie das Kind heißen soll.
Namensgebung finde ich total spannend. Im Dezember wurden in unseren Freundes- und Familienkreis fünf Kinder geboren: Thea, Theo, Lea, Leo, und Max. Zum Glück für die Lehrer werden die aus geographischen Gründen aber nicht alle in eine Klasse gehen.

„Was sagt denn dein Mann?“
„Ach Jarek… der will unbedingt einen polnischen Vornamen. Alicja oder so.“
„Alicja! Das ist doch süß. Alicja… Alicja – find’ste nich?“
„Nee. Nix Polnisches! Ich will einen deutschen Namen. Was sagst du zu Destiny?“

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Immer dasselbe

Immer dasselbe.
Vor dem Lidl meines Vertrauens steht direkt neben den Einkaufswagen jemand, der eine dieser Straßenzeitungen anbietet. „Motz“ oder „Straßenfeger“ heißen die in Berlin.

Es werden immer mehr, die da draußen auf mich warten.
Überall strecken sie mir ihre Zeitungen entgegen. Eine junge Frau reißt mir die schwere Eingangstür der Bank auf, ein alter Mann schaut mich auf den Eingangsstufen der Post unterwürfig an, ein Alki labert mich vor dem Bioladen voll, ein Junkie haut mich im Straßencafé aggressiv an, ein junger Mann lächelt mir im U-Bahnhof übertrieben freundlich zu.

Ihre Verkaufsstrategien sind so unterschiedlich wie sie selbst.
Aber bei mir verfängt keine.
Ich kaufe diese Zeitungen nicht. Aus Prinzip – weil ich sie nicht lesen will.
Und was ich nicht lesen will, kaufe ich nicht. Da könnte ich ja statt der Zeitung gleich das Geld in die Blaue Tonne kloppen – oder aber, ich könnte es dem Verkäufer in die Hand drücken und auf die Mitnahme des Blattes verzichten.
Das mache ich manchmal.

Besonders vor dem Lidl. Da steht oft eine Frau. Ihr Alter kann man schlecht schätzen, wahrscheinlich ist sie ungefähr so alt wie ich. Aber vielleicht irre ich mich auch. Sie ist ziemlich dünn, hat lange schwarz-grau gesprenkelte Haare und tiefe, dunkle Augenringe. Ich vermute, sie kommt aus Rumänien. Meistens spielt sie auf einem Akkordeon. Die Zeitungen liegen neben ihr auf dem Boden. Wenn jemand an ihr vorbei geht, schaut sie kurz hoch und grüßt.
Die meisten Leute beachten sie gar nicht, sie zerren ihre Wagen aus der Wagenschlange oder knallen sie wieder rein.

Ich frage mich manchmal, wie sie das aushält. Also, ich meine, wie sie dieses Nicht -Beachtet- Werden aushält. Da zu stehen und Luft zu sein.

Keine Angst. Ich bin keine Sozial-Romantikerin.
Ich mache das alles auch so. Das Übersehen, das Nicht-Grüßen, das Nicht-Geben. In einer Stadt wie Berlin geht das auch gar nicht anders. Man kann ja schließlich nicht jeden Tag irgendwelchen Leuten ich-weiß-nicht–wie-viel Euro spenden. Und ich will das auch nicht. Ich spende regelmäßig an ein vernünftiges Projekt und im Katastrophenfall auch mal was zwischendurch.

Ich habe ein gutes Gewissen. Also ziemlich. Sagen wir mal… meistens.

Allerdings – dieser Frau vor dem Lidl gebe ich öfters den Euro aus meinem Einkaufswagen.
Sie lächelt mich dann geistesabwesend an und ich drehe mich um, gehe zu meinem Auto und schäme mich.

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Postgängster

‚Helmut Hammermann’ steht auf dem Briefumschlag.
Hä?
Helmut Hammermann?
Was macht ein Brief für Helmut Hammermann in MEINEM Briefkasten? Und da! Noch einer! Und die ADAC-Zeitung! Auch für den. Und ein Klamotten-Katalog – aber nicht für Helmut, sondern für Birgit.
Die Hammermanns wohnen über mir. Vater, Mutter und zwei Söhne. Ich kenne sie nicht wirklich, den einzigen Kontakt zu ihnen hatte ich, als große Wasserfluten von oben durch die Decke kamen… aber das ist eine andere Geschichte.
Alles klar, die Briefträgerin hat sämtlich Post für Hammermanns in meinen Briefkasten gestopft, denke ich. Kann ja mal vorkommen. Vielleicht kann sie nicht lesen oder sie war abgehetzt oder erkältet oder hatte Restalkohol oder Liebeskummer – was weiß ich.
Der Hammermannsche Briefkasten hängt gleich rechts neben meinem.
Aber wo ist er hin?. Auf dem nächsten Kasten rechts steht nämlich nicht HAMMERMANN sondern VOIGT.
Ein Verdacht beschleicht mich – aber das kann doch gar nicht sein…
Ich schließe die Briefkastentür und starre auf das Namensschild: HAMMERMANN! Und nicht KRISE.
Ist ja ein Ding.
Ich habe also gar nicht meinen, sondern den Briefkasten der Hammermänner geöffnet. ICH war falsch, nicht die Christel von der Post.
Ja…aber…aber… was ist mit meinem Schlüssel los? Wieso passt der auf einen fremden Briefkasten?
Gibt’s ja gar nicht. Oder doch?
Womöglich kann mein Schlüssel auch noch andere Schlösser aufmachen. Schnell, schnell! Wenn jetzt einer kommt!
Es kommt keiner und er kann nicht. Er öffnet nur den Hammermannschen Briefkasten und meinen und sonst keinen.
Schade eigentlich…

Ein paar Tage später stehe ich neben einem der Hammermannsöhne am Briefkasten. Der Knabe ist so vierzehn, fünfzehn.
„Kriegst du mit deinem Schlüssel eigentlich auch noch andere Briefkästen auf?“ rutscht es mir so raus. Er guckt mich zweifelnd an.
„Probier mal!“ sage ich im Lehrerinnenton und zeige auf den Briefkasten von Voigts. Gehorsam macht sich das Kind ans Werk.
Zack! Die Briefkastentür springt auf.
„Boah, ey!“ Das Hammermännchen wundert sich. Ich nicht.

Dann letzte Woche ein Zettel im Mitteilungskasten neben der Haustür:

„Liebe Nachbarn!
Aus unserem Briefkasten wurde etwas gestohlen: die Umweltkarte der BVG, die wir da immer deponieren und ein Brief, wo Geld drin war, 150 Euro. Wir haben jetzt eine Anzeige aufgegeben. Ich wollte euch alle warnen! Hier klaut jemand! Augen auf!
H. Hammermann“

Mich durchzuckte es. Diebstahl! Hilfe!
Das Hammermännchen hat ja garantiert seinem Papa erzählt, dass ICH ihren Briefkasten öffnen kann. Wer ist also die Hauptverdächtige!
ICKE! Wer sonst?
Oh Mann, mir wurde ganz heiß. Bestimmt würde die Polizei mich vorladen und verhören. Meine Fingerabdrücke… ach herrje! Und wer weiß, ob ich zur Tatzeit ein Alibi…
Ich sah mich schon in Untersuchungshaft sitzen. Andererseits – das hätte natürlich auch was für sich – so als Recherche für unseren nächsten Krimi, meine ich.

Abends bin ich dann zu Hammermanns hochmarschiert – vorsichtshalber .
„Machen Se sich keene Sorjen, Frl. Krise!“
HH lachte herzlich.
„Wissn Se wat? Ha’ ick erst jestern erfahrn: Dem Herrn Voigt ha’m se ooch wat aus’m Kasten jeklaut: Eene neue Scheckkarte un denn noch paar Tage späta die Benachrichtijung mit de Pin-Numma. Dit hat er erst jemerkt, als ihm 1000 Euro vom Konto abjehoben wurden. Na, der is richtich jekniffn. Tscha. So kanns jehn. Und wer kann dem sein Briefkasten öffnen? Janz Jenau! Icke!“

Na, da war ich aber beruhigt.
Wenn ALLE klauen, dann gleicht sich das bestimmt auf Dauer wieder aus…

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Wer ist der Lauteste im ganzen Land?

Ab und zu ruft Bettina an. Sehr ab und zu, vielleicht einmal im Jahr. Höchstens.
Wir waren früher mal Nachbarinnen, aber das ist ewig her. Eigentlich haben wir uns gar nichts mehr zu sagen, aber aus irgendeinem Grunde meldet sie sich meist um die Weihnachtszeit.

Uns so war es auch dieses Jahr.
Unser Gespräch streifte zunächst die großen Themen Wetter und Gesundheit, wandte sich dann ihrem neuen Hund, dem fallenden Ölpreis und meinem Enkelkind zu und drohte fast schon vorzeitig zu versiegen, als Bettina noch gerade rechtzeitig mit „Ach, hab ich dir schon erzählt, dass ich umziehen will?“ die Kurve kriegte.
Umziehen ist immer interessant.
„Nanu, warum das denn? Du wohnst doch schon ewig da!“
„Ja, aber ich bin es leid. Es ziehen neuerdings immer mehr Türken in unser Haus. Du weißt ja, ich hab nichts gegen Ausländer, wirklich nicht, aber dass die sich auch so gar nicht anpassen können!“
„Wie meinst du das?“
„Na, die Kinder von denen, zum Beispiel. So einen Krach, wie die machen! Es ist nicht zum Aushalten. Sogar abends! Die brauchen ja abends nicht ins Bett anscheinend! Also, ich meine zu einer normalen Zeit, wenn Kinder so ins Bett gehören!“
Mein zarter Hinweis, dass meine deutschen (Eulen-)Töchter im lautesten Alter (also von 1-18 Jahren) auch nur schwer zu einer tolerablen Zeit ins Bett zu kriegen waren, wurde ungnädig aufgenommen. Also fragte ich:
„Wohnt die Familie mit den Kindern denn genau über dir?“
„Ja sicher. Und nebenan sind jetzt auch noch welche. Es ist unerträglich.“
„Hast du sie denn überhaupt schon mal angesprochen? Ich meine, vielleicht …“
„Quatsch, DAS bringt doch gar nichts! Ich sag dir, die Türken sind einfach lauter als wir!“

Seufz.

Aber Bettina ist nicht die einzige, die so spricht.

Die nette junge Besitzerin eines kleines Wollladens in Neukölln, in dem ich regelmäßig einkaufe und mit der ich mich immer sehr nett unterhalte, begrüßte mich Anfang Dezember:

„Schön, dass Sie mal wieder kommen! Sie waren ja so lange nicht mehr hier!“
„Ja, das stimmt, aber ich bin nicht mehr so oft in die Gegend. Meine Tochter wohnte doch nebenan, aber die ist im Sommer weg gezogen.“
„Weg gezogen? Wohin denn, ich meine, in welchen Bezirk?“
„An den Stadtrand, ins Grüne.“
„Ach, wie schön! Das würde ich auch so gerne! Es wird doch immer schlimmer hier in der Ecke! Ist echt nicht mehr zum Aushalten. Ganz ehrlich! Ich sag oft zu meinem Mann, los, lass uns umziehen! Wissen sie warum? Ich dachte ja früher, die Arabs wären laut! Aber die Zigeuners jetzt, die sind ja noch viel, viel schlimmer!“
Die junge Frau schüttelte traurig den Kopf.

Sie ist übrigens türkischstämmig und wunderbar integriert.

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