Das schöne Übel

Heute nach der ersten Pause. Necla presst meine Hand fest gegen ihre Brust.
„Fühlen Sie mal, wie doll mein Herz schlägt!“ sagt sie besorgt.
„Ganz normal, Necla!“ Ich kann da nichts Besonderes entdecken. „Du bist ja auch gerade so ungefähr 80 Stufen hochgerannt!“ Sie guckt mich zweifelnd an.
„Bei mir klopft das genau so“, sage ich, „eher noch schneller! Naja, bin ja auch älter als du und unfitter!“
„Echt?“ Necla mustert mich eingehend. „Eigentlich sind Sie doch schon voll alt, wa Frl. Krise? “
Sie überlegt noch einen Moment. Dann lächelt sie mich liebevoll und ein bisschen mitleidig an.
„Bestimmt leben sie nicht mehr so lange…!“

Meine Schüler lieben es direkt. Sie sagen die Wahrheit – ihre Wahrheit, egal ob positiv oder negativ… Daran gewöhnt man sich…oder auch nicht.

Nirgendwo wird man so gefeiert und so verdammt wie in der Schule und das in fliegendem Wechsel. Ist man in der einen Minute noch „voll süüüüß“ und die „coolste Lehrerin“ des weiten Erdenrunds, so steht man im nächsten Moment schon als Ausgeburt der Hölle da und hat mal wieder voll krass seine Rolle übertrieben.
Mal wirst du von allen Seiten gegrüßt, sie reißen dir jede Tür auf und du spazierst hoheitsvoll wie die Königin von Saba durch die Schule – mal rennen dich genau diese Schüler johlend über den Haufen, obwohl du gerade einen heißen Kaffee, ein Käsebrötchen und den gläsernen Weihnachtsschmuck für die Klasse durch den Flur balancierst.
Kugelt sich Bülent in der Pause fast die Arme aus, um dir aus freien Stücken zwei schwere Farbeimer auf einmal hoch zu schleppen, so weigert er sich zehn Minuten später, einen runtergefallen Stift aufzuheben.
Ist deine Nesrin dienstags unaustehlich, so bringt sie dir am Mittwoch selbstgebackenes Börek mit. Schreibt Aynur heute einen fehlerlosen Text, weiß sie morgen nicht mal mehr, dass sie des Lesens mächtig ist.

Könnte mir das mal jemand erklären?

Hat das mit dem Wetter, der Uhrzeit, dem Mondzyklus, dem Fernsehprogramm, der Jahreszeit, der Körpertemperatur, der Bundesliga oder der Ernährung zu tun? Sind es die Hormone, die Blutgruppen oder die Gene? Die Eltern oder die Cousins? Ob ich hochhackige oder flache Schuhe trage? Rosa Lippenstift oder grünen Nagellack benutze? Ist es der Euro? Vielleicht der fallende Dax? Mein Parfüm! Oder doch die steigenden Ölpreise? Die Kürzung der Gelder für Bildung? Oder das Bildungspaket!

Herr Sarrazin oder Circus Sarrasani?
Nobody knows.

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35 Antworten zu Das schöne Übel

  1. Olaf schreibt:

    Hier kommt schon wieder eine Unterrichtsidee:

    Bilden Sie eine Versuchsreihe und versuchen Sie, es mit Ihren Schöölern herauszufinden. Als Ziel der Beweisführung könnten Sie angeben: Wie bringe ich andere (die Schüler) im Unterricht dazu, sich möglichst doof und mies zu verhalten ? Bzw. ich werde es schaffen, daß sie es tun. Sie präsentieren Ihre Theorie in entsprechender Form und lassen das Experiment bzw. eine Experimentfolge über ein halbes Schuljahr laufen. Und wiederholen es dann über ein weiteres halbes Jahr. Entweder die Schüler bestätigen Ihre Theorie (dann hätten Sie ja recht – was aber nicht sein darf und darum eher nicht passieren wird) oder sie werden das Bedürfnis haben, Ihren Versuch der Verifizierung zu sabotieren (was wahrscheinlicher erscheint) und sich vernünftig benehmen.
    Was wollen Sie mehr ?
    Oder es ist einfach Schildkrötenunterfunktion. 😉
    Ich weiß es wohl auch nicht.

    • frlkrise schreibt:

      Schildkrötenunterfunktion. ;-), hach die hatte ich ja schon ganz vergessen! Die ist auf jeden Fall mit beteiligt!

    • Anka schreibt:

      Schildkrötenunterfunktion, das muss es sein!
      Eine noch unbekannte endemisch auftretende Form!
      Schildkrötenunterfunktion macht Herzklopfen, verursacht Wortfindungsstörungen und motorische Ausfälle, ist verantwortlich für enorme Morgenmüdigkeit, Antriebsschwäche und Stimmungsschwankungen. Sie macht vergesslich, beeinträchtigt Augen und Ohren und Verdauungstrakt…samt und sonders Symptome, die sie hier beschreiben.
      Und eigentlich noch nicht einmal ein Problem.
      Das ist ja gut behandelbar.

    • heleum schreibt:

      also Schildkrötenunterfunktion, ich wusste es!

  2. puzzle schreibt:

    Pubertäre Taumel?
    Vielleicht verursacht das so eine Art Anziehungs- und Abstoßungseffekt, das Lehrerinnen-Herzen das Wegschieben, die kindliche Verweigerungstaktiken, wenn sie die Ausbildungsplatz-Hausaufgaben verdrängen, als Gummibandreaktion auf das das Erwachsenseinwollen und womöglich verlobt.
    Genaus0 kann es sein, daß sie Erwachsene, also echte, nach einem Sympathieanfall wieder auf Distanz sehen möchten, weil man Angst hat, bald adzu zu gehören und man weiß doch: dann geht der Verfall rasend … man bedenke die schon seit James dean oder früher bekannten Live-fast-die-young-Panikattacken von Erwachsenen vor den 30 und alles was danach kommt – ein Graus.

  3. Jessi schreibt:

    uuuuuuh, also wenn mir jemand so direkt ins Gesicht sagen würde, dass ich bald sterbe… nagut, ich habe auch noch Zeit… aber ich finde es schon komisch, wenn ein halber Teenie mich mit „Sie“ anspricht (gestatten, 23 und erst vor 3 Jahren Abi gemacht…)… naja…
    dieses Phänomen, dass man jemandn in einer Sekunde mag und eine Sekunde später am liebsten Tod sehen will… tja, wer kennt das nicht ? *gg*

  4. Schrödingers Katze schreibt:

    Vollmond, eindeutig! Zumindest im Westen.

  5. hafensonne schreibt:

    Phänomen heißt Pubertät… und ist für alle Beteiligten SEHR anstrengend – oder kennen Sie jemanden, der nochmal 15 sein möchte? Und natürlich sind ALLE von Ihnen sehr schön aufgezählten Funktionsbereiche betroffen.

    • Der Mathehügel schreibt:

      Seit Jahren versuche ich einen Gesamtkonferenzbeschluß zu erzwingen, der die Pubertät während der Schulzeit schlicht und ergreifend VERBIETET.
      Leider sperren sich einige (Bio-) Kollegen.

  6. Yve schreibt:

    Liebes Frl. Krise,
    ich lese Ihren Blog schon eine ganze Weile und so wie Sie ihre Schüler beschreiben, fürchte ich, dass es sich um Pubertät handelt. So war es zumindest als ich noch in der Schule war (gerade mal 4 Jahre her). Zwischen der 8 und der 10 war es am schlimmsten. Man hasste den Lehrer und im nächsten Moment vergöttert man ihn. Kann man leider nur rauswachsen.

  7. Jürgen schreibt:

    Es sind neben den Hormonen hauptsächlich die fehlenden Strukturen. Das Elternhaus hat von Anfang an seinen Kindern wenig mit gegeben. Und nicht:
    Wetter, Uhrzeit, Mondzyklus, Fernsehprogramm, Jahreszeit, Körpertemperatur, Bundesliga oder Ernährung, die Hormone, die Blutgruppen oder die Gene, die Eltern oder die Cousins, hochhackige oder flache Schuhe, rosa Lippenstift oder grüner Nagellack, der Euro, der fallende Dax, Ihr Parfüm oder die steigenden Ölpreise.
    Basta.

  8. Ich eben wer sonst schreibt:

    „Bestimmt leben sie nicht mehr so lange…!“
    haha wenn das jemand dauernd zu mir sagen würde, würde ich auch nicht mehr lange leben wollen.

  9. Mike schreibt:

    Schauen wir doch mal nach rechts auf die Bandbreite der Möglichkeiten: Da sind die Kollegen, die die Schüler gar nicht ausstehen. NIEMALS würde, und wenn sie noch so gut drauf wäre, sich eine Schülerin von dem Kollegen/der Kollegin berühren lassen.

    Schauen wir nach links: Gibt es wirklich Kolleginnen, bei denen die Schüler immer folgsam und fröhlich sind? Nö, und der Rest ist Pubertät, wie schon die meisten schrieben.

  10. ClockworkGnome schreibt:

    Definitiv der grüne Nagellack – da würde ich auch komisch reagieren.

  11. Blümchen schreibt:

    tja… seitdem ich an der schule bin, wäre ich dafür die Schüler der Jahrgänge 7 und 8 zu beurlauben. Die müssen in der Zeit zwangsweise mindestens den halben Tag soziale Dienste leisten oder fiese harte Arbeit ausführen. Danach kämen sie ab der 9 motiviert in die Schule zurück und ich könnte ihnen endlich etwas beibringen 😉
    Aber ja ja,….im Gegensatz zu meinen Schülern weiß ich, dass es eine Errungenschaft ist, dass Kinderarbeit verboten ist… Dennoch… träumen sollte doch erlaubt sein.

  12. Frl. Freizeit schreibt:

    Leider schwankt es selbst an einem Tag schon zu häufig, sonst könnte man via blog rausfinden ob es extrakörperliche Einflüsse gibt, die in anderen Bildungseinrichtungen, an einem Tag X, auch gewirkt haben.
    Bei uns (Offene Jugendarbeit) war heute aufmüpfiger Tag!
    Selbst bei Praktikanten (Berufsorientierung, allgemein – nicht unbedingt pädagogisches Feld).
    „Ich hör nichts, höre grade Musik“ (mit Öhrstöpseln).
    Antwort auf eine Arbeitsanweisung.
    Hä! Da hör ich sprachlos ROT! Das darf man doch nicht mal in der Schule!
    Da nützen noch so schön krisegeprüfte Bewerbungsunterlagen nichts, das wäre in jedem Ausbildunsbetrieb das Ende.
    Liebe Grüße

  13. michathecook schreibt:

    ganz klar sondervollmond…der kommt ja teilweise auch nur stuendlich auf um genau so schnell wieder zu verschwinden.
    schwer zu erkennen aber sofort merkbar wie von ihnen beschrieben.
    nicht wundern nur warten, das geht wieder weg.

  14. RogueEconomist schreibt:

    Haben sie mal darüber nachgedacht, einer Bank ein neues Geschäftsmodell mit Derivaten bezogen auf die Laune ihrer Schüler anzubieten? Wäre auch nicht viel unseriöser als das was Banken sonst so machen 😉 Alternativ ziehen sie das im Lehrerzimmer auf und zocken ihre Kollegen ab. Bei Interesse leiste ich gerne beratende Unterstützung…
    Davon ab fällt mir dazu die Pubertät und „Vom Himmel hoch jauchzend…“ ein.

  15. K schreibt:

    Uiuiuui….., das hat aber auch was. Ständiger Gleichklang wäre doch auch öde.

  16. mrs. sippi schreibt:

    Hallo,
    ich lese schon seit einiger Zeit begeistert Ihren Blog und erlebe Ähnliches bei meinem 14 jährigen Sohn. In der einen Sekunde noch die „Ich hab dich lieb, Mama“, im nächsten Moment „halt doch die Klappe“. Ich fürchte auch, es ist die Pubertät.
    Schildkrötenunterfunktion fänd ich viel toller, könnte man auch schneller beheben.
    Liebe Grüße

  17. B wird Lehrerin schreibt:

    Woher auch immer diese Achterbahn kommt, man muss ja lernen damit klarzukommen ohne dass einem schwindlig wird und man nach dem nächsten Looping kotzen muss. Dafür hätte ich ja gern mal ein Rezept 🙂

  18. farmergirl schreibt:

    das ist eindeutig PUPERITIS, da bin ich mir ganz sicher

  19. Die Antwort ist irgendwo da draußen…..(Mascha zeigt zum Nachthimmel und es ertönt mystische Akte X Musik im Hintergrund)

  20. KC schreibt:

    Da hilft nur, schöne Momente in der pädagogischen Konservendose einwecken und bei Bedarf als tragbaren Tagtraum abspulen, wenn mal wieder gar nix klappt 😀 😀 😀

  21. christaschule2010 schreibt:

    & Mathehügel – Pubertät verbieten – habe selten so gut gelacht! Vor allem da ich mit der gleichen Altersklasse arbeiten muss, und mir täglich die Nerven mit ihren pubertären Ausfällen fresse.

    Und sonst könnte es ja die Kombination von rosa Lippenstift und grünem Nagellack sein – vielleicht sehen die dann nur noch punkte oder so!

    ein ruhiges Wochenende an alle

  22. Mars schreibt:

    Manchmal denke ich, Sie, liebes Frl Krise, sind auf meiner Schule… Kann aber nicht sein, Sie haben immer anders Ferien 😉 Oder meine Schüler führen unerkannt ein Doppelleben, was auch zum Teil die Verspätungen erklären würde….

  23. Jörg schreibt:

    Dieser Post zeigt eines ganz deutlich. Das, was sich durch diesen ganzen Blog zieht, durch jeden Satz. Sie lieben Ihren Beruf, v.a. aber lieben Sie Ihre Schüler. Behutsam und liebevoll zeichnen Sie Ihre Schüler nach, ihre Charakterzüge, ihre Besonderheiten, im Guten wie im Schlechten. Obwohl es bestimmt nicht einfach ist, sich in dieser Welt zu behaupten (im übertragenen Sinne), liest man nichts Schlechtes, nichts Häßliches. Alles hat seinen Platz, alles ist aufgeräumt – inmitten des scheinbaren Chaos – und es macht einfach Spaß, Ihren Blog zu lesen. 🙂

  24. Frau Lehmann schreibt:

    Wie kommt es eigentlich zu diesem Ausdruck: „Die Rolle übertreiben“?
    Das ist doch eigentlich höchst soziologisch?

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