Mit oder ohne h?

„Erol beleidigt uns immer!“ sagt Osman im Klassenrat. Wir sitzen im Kreis und er zeigt in die Runde. Dabei zählt er auf: „Zu Eren sagt er ‚Fisch‘, zu Gürkan ‚Fehlgeburt‘, zu Musa ‚Fetter‘, zu Hamudi ‚Pickelgesicht‘, zu Tian ‚Häßlichkeit‘, zu Yosra ‚Arschkind‘, zu Hülya ‚Schlampe’…“
„Dabei bin ich gar keine Schlampe!“ schreit Hülya.
„Meinst du, ich bin Fisch?“ regt sich Eren auf und Musas schäumt: „Ich schlage ihm tot, wenn er mir noch einmal ‚Fetter‘ sagt!“
„Und was sagt IHR mir?“ Erol versucht aufzuspringen. Aber er ist am Fuß operiert worden und kann nicht so schnell, wie er will. „Ihr sagt mir auch immer Ausdrücke! Musa hat mir Hurensohn gesagt!“
Jetzt geht alles durcheinander:
„Frl. Krise, er beleidigt unsere Eltern!“
„Halt die Fresse!“
„Du hast mir Knecht gesagt!“
„Weil du meine Mutter…“
„HALT! STOPP!“
Mit Mühe verschaffe ich mir Ruhe. Eigentlich soll der Klassenprecher die Diskussion leiten, aber Musa ist auf einem ganz anderen Trip. Er droht mit der Faust und schimpft wie ein Rohrspatz.
Warum diese ganzen Ausdrücke und Beleidigungen?
Nobody knows.
Gestern beim Schlittschulaufen war es noch ganz friedlich.
Nach langem Hin und Her nimmt man sich vor, die Beschimpfungen einzustellen.
„Aber nur, wenn mir keiner mehr was sagt!“ mosert Erol und Osman ist ausnahmsweise ganz seiner Meinung:“Ja, wenn mir einer ein Audruck sagt, dann…“
Mir platzt fast der Kopf und mein Geduldsfaden ist zum Zerreißen gespannt. Mann!
„Man könnte meinen, bei euch zu Hause ginge es so zu,“ sage ich, “ aber ich weiß, dass sich eure Eltern für euch schämen würden, wenn sie das alles hören müssten!“
„Was schämen! Ich sage immer Ausdrücke zu meine Cousins!“ trumpft Erol auf.
„Aber sagt dein Vater Ausdrücke zu deine Mutter?“ fragt Hülya.
„Was Ausdrücke! Vallah, DEIN Vater sagt Ausdrücke zu DEINE Mutter!“ kontert Erol.
„Frl. Krise!!!! Haben Sie gehört? Er beleidigt meine Elteeeeeern!“
Himmel! Jetzt geht die ganze Aktion von vorne los. Ich springe auf und verlasse wortlos den Kreis. Nur raus hier. Ich bekomme auch sehr gut vor der Türe mit, was drinnen abgeht, laut genug ist es ja. Eine Heidenschreierei!
Hamudi streckt den Kopf zur Tür hinaus: “ Kommen Sie wieder rein, Frl. Krise?“
„Nee! Nicht bei so einem Krawall!“
Hamudi verschwindet. Ich höre wie Musa und er drinnen immer wieder schreien:“Jetzt haltet die Fresse! Haltet doch die Fresse!“
Am liebsten würde ich reinstürzen – aber dann nach einigen Minuten wird es ruhiger und ruhiger und schließlich öffnet sich die Türe. Alle sitzen stumm auf ihren Stühlen und Gisun flötet: “ Jetzt, Frl. Krise!“
Ich setze mich auf meinen Stuhl und blicke in die Runde.
„Wir sagen uns keine Ausdrücke mehr, echt, Frl. Krise!“gelobt Musa stellvertretend und einige nicken.
„Schön“, sage ich und seufze, „ein guter Vorsatz! Erstmal nur heute! Das reicht, glaube ich. Wir haben ja noch drei Stunden. Montag reden wir weiter darüber!“
Tatsächlich, für den Rest des Tages bleibt die Lage ruhig. Ich höre keine Beleidigungen mehr. Okay, in der Hofpause bin ich nicht dabei…
„Frl. Krise!“ Erol steht vor der Lehrezimmertür. Hinter ihm hampelt Osman von einem Bein aufs andere. Erol schnauft vor Empörung: „Frl. Krise, dieser behinderte Spast, dieser Osman, er hat mir gerade Ausdruck gesagt! Genfehler! Das ist ein Ausdruck, wa?!“
Hä? Weiß Osman überhaupt, was das ist – ein Genfehler? Der hat doch keine Ahnung von Vererbungslehre!
„Ich habe…ich wollte…äh…ich dachte nicht, dass Genfehler Ausdruck ist…!“
„Osman! Das glaube ich dir nicht!“
„Vallah, janein, Frl. Krise! Ich dachte, ist kein schlimmer Ausdruck! Hab ich nur gesagt, ‚Genfehler‘, weil er kann doch nicht geh’n, wegen sein operierten Zeh!“

Da sieht man’s mal wieder! Ein bisschen Ahnung von Rechtschreibung und Genetik kann selbst beim bekonnten Beleidigen nicht schaden…

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23 Antworten zu Mit oder ohne h?

  1. C. Rosenblatt schreibt:

    ach… wär doch auch schön, wenns im Kopf kleine Schwellen gäb… erst denken dann…aber was red ich
    es ist die Pubertät… eine bessere Methapher für Hirnstraßenarbeiten und in Folge dessen fehlender Schwellen gibts ja fast gar nicht

  2. Inch schreibt:

    Hahaha! Sie haben mich grad aus meinem Stimmungstief gerettet. *schenkelklopf*

  3. Himmelhoch schreibt:

    Die Po-Ente ist das allerallerbeste von dieser Ausdrucksstory!

  4. Ei Weiwei schreibt:

    Ging es im Ethikunterricht Ihrer Siebenten nicht kürzlich um Höflichkeit und die Konjunktivitiden? Mit Sicherheit muss man dieses Thema periodisch wiederholen, um das Gelernte positiv zu beeinflussen. Für jedes Schimpfwort muss Musa dem Erol drei Freundlichkeiten sagen. Vallah!
    Mit Sicherheit sind diese Beleidigungen ein Gewinn für die etlichen Schimpfwörterlexika.
    Und Sie, liebe Fr. Krise, sind ein Gewinn im Bloggerwald, vor allem aber für Ihre Schüler-Innen.
    Ein Sonniges WE

  5. rotezora. schreibt:

    Ich hab’s geahnt, Ich hab’s geahnt! Gröl, das ist göttlich! Genfehler, weil er nicht gehen kann!
    Übrigens: Ich habe auch gelernt „Er hat mir einen Gehfehler gegeben!“, das kannte ich bis vor ein paar Jahren auch noch nicht. Bedeutet „Er hat mirein Bein gestellt!“.

  6. Lily schreibt:

    „Genfehler“ wäre einer der gewähltesten pösen Ausdrücke die mir je unter die Augen kamen. Und die Erklärung dazu ist fast noch viel besser. Man könnte einen Moment lang den Eindruck gewinnen, dass dort ein Sprachgenie under cover tätig ist und sich so aus der Schlinge leugnet. Grandios.

  7. Ulla39 schreibt:

    Eine Weile werde ich hier wohl nicht mitlesen – @tadeS75 özür dilerim- ist zu deprimierend.

    • Tades75 schreibt:

      @ Ulla39: Estagfurullah, hic sorun degil (=sinngemäß: ich bitte dich, absolut kein Problem)
      Mir geht’s doch nicht anders. So gern ich diesen Blog auch lese, ertappe ich mich seit mehreren Wochen dabei, dass ich mehrere Tage, gar Wochen aussetze, deswegen auch meine manchmal verspätete Rückmeldung, wenn Du mich mal direkt „ansprichst“. Kaum ist die alte Klasse weg und eine neue Klasse da, verschwindet auch schnell die neue Hoffnung.
      Wenn ich diese Ausdrücke und dieses miserable Deutsch lese, kann doch keine Hoffnung bestehen bleiben und somit schwindet bei aller Sympathie für diesen Blog fast jede Lust weiterzulesen.
      Es besteht ein Unterschied zwischen einem „biodeutschen“ Leser dieses Blogs und einem Türken oder einer langjährig mit einem Türken, bzw. „Türkischwurzeligem“ verheirateten Kovertititin. Der biodeutsche Leser kann leichter darüber schmunzeln und bei aller guter Absicht besteht dennoch eine gewisse Distanz, einfacher gesagt, das Verhältnis zwischen dem Biodeutschen und diesen Kindern ist „Wir“ und „Die“, egal wie freundlich und gutmütig der Biodeutsche hier auch sein mag.
      Bei mir/uns gibt es aber keine Abgrenzung zwischen „Wir“, bzw. „Ich“ und „Die“.
      Ganz egal, wie sehr ich mich durch meinen schulischen, kulturellen und beruflichen Hintergrund von diesen Kindern unterscheide, teile ich doch die Herkunft und bin deswegen oft so deprimiert. Von daher hast Du mein vollstes Verständnis und ich harre deines baldigen „Comebacks“. 🙂

      • frlkrise schreibt:

        Alsoooo: 1. Meine biodeutschen Schüler sind doch auch keinen Deut anders!!! Weder sprachlich, noch bildungstechnisch…
        2. So negativ das auch wirkt: Die machen schon ihren Weg. Zur Zeit habe ich wieder mehr Kontakt mit meiner vorletzten Klasse und siehe da, die haben sich sehr gut gemacht – es dauert einfach etwas länger!
        3. Meine jetzige Klasse wird langsam richtig schön knallpubertär und dabei immer noch ziemlich süß!
        4. Mitte März is alles vorbei – da wollt ihr mich jetzt im Stich lassen? Immerhin habe ich 40 Jahre Pubertät hinter mir… (und ihr nur 2,5)!!!

      • Ulla39 schreibt:

        @tadeS75 Danke! Hab‘ nur mal kurz vorbeigeschaut, s.unten.

  8. Eike schreibt:

    „Ich hab ‚Genfehler‘ gesagt, weil er nicht richtig geh’n kann“ ist ja wohl ein ziemlich gutes Wortspiel! Den Osman sollte man in eine Lyrik AG stecken.

  9. nadineswelt schreibt:

    Vielleicht gräbt er auch mit dem Spruch irgendwann Mädels an! Hat ein Bekannter mal versucht, so: „Hey! Du hast nen Gehfehler! Du gehst mit dem Falschen!“
    (Resultat: Blaues Auge)

  10. Sisi schreibt:

    „Häßlichkeit“
    Jaaaaa da ist es wieder. Mein Lieblingswort. Ich hab schon befürchtet das es mit deiner alten Klasse für immer weg wäre. Aber das die Kleinen das auch benutzten. Herrlich…

  11. Ulla39 schreibt:

    Krisi kämpft wie eine Löwin für ihre Schüler, allesamt. Das ist sooo sympathisch!
    Seit Jahrzehnten bin ich „verwickelt“ in die Probleme von Familien türkischer sogen. Gastarbeiter und ihrer Nachkommen (trotz eines völlig anderen Berufes). Ich erinnere mich genau, wie schwer das Leben hier für die ersten türkischen Arbeiter war. Die deutsche Seite hat sich da keineswegs mit Ruhm bekleckert. (Schon die Auswahl derer, die nach Deutschland gehen durften, war menschenunwürdig.) Ich mit dem Namen meines türkischen Ehemannes bekam und bekomme einen Teil der Vorurteile von Deutschen gegen Türken ab. („Hast du nix besseres abbekommen als einen Türken?“ Frage eines Beamten im Ordnungsamt Frankfurt Main 1967. Läßt sich beliebig fortsetzen.)
    Es tut mir deshalb weh und macht mich wütend, daß diese Kinder und Jugendlichen nicht zulassen, daß man mit ihnen zusammen ihre Begabungen herausfindet, denn jeder hat Begabungen. Es tut mir weh und macht mich wütend, daß diese Kinder und Jugendlichen andererseits nicht wagen würden, sich in der Türkei so zu verhalten.

  12. nico schreibt:

    Sowas passiert auch auf dem Gymnasium….

  13. tahmineh schreibt:

    Also ich hatte beim Lesen dieses Blogs zwar nie das Gefühl, dass dabei suggeriert werden sollte, nur nichtdeutsche Kinder haben Lernprobleme. Allerdings glaube ich schon, dass nichtdeutschen Kindern oft nicht so viel zugetraut wird. Ich bin in Deutschland zur Schule gegangen, in einer Kleinstadt, es gab nur wenig Ausländer an meiner Schule, aber ich kann mich gut erinnern dass wenn sich einer von denen irgendwie blöd anstellte oder zu langsam war oder Blödsinn machte viele Lehrer in einer Form reagierten, die einen selbst als Schüler unterbewusst fühlen lies: von denen wird gar nichts anderes erwartet. Wohingegen das gleiche Verhalten bei biodeutschen Kindern als „Phase“ oder Ähnliches ausgelegt wurde. (Zwei von diesen wenigen nichtdeutschen Kindern haben übrigens später u.a. Chinesisch gelernt (hatte nichts mit deren ursprünglicher Muttersprache zu tun), haben längere Zeit in China und Taiwan gelebt und dort gearbeitet. Von meinen biodeutschen Schulkameraden kenne ich keinen Einzigen, der das gemacht hat.)

    Aber wie gesagt, bei diesem Blog würde ich das eher so verstehen, dass es sich um grundsätzlich eher bildungsferne Familien handelt, bzw. auch solche, die den Kindern auch materiel mehr Förderung einfach nicht ermöglichen können, die Herkunft spielt dabei wohl eher eine zweitrangige Rolle.

  14. Ulla39 schreibt:

    „Mitte März ist alles vorbei“??? Eben erst ist der Groschen gefallen. Nee, da muß ich doch weiter mitlesen; hatte ich doch gar nicht bedacht.
    Übrigens: Was kommt dann, ich meine, für uns?
    Und danke @Nico und alle anderen, die zeigen, daß es nicht nur „türkische“ Jugendliche sind. Türkisch bedeutet hier für mich und sicher auch für tadeS75 eine bestimmte Art der Betroffenheit und daß wir genau wissen, daß sie in der Türkei ihre Pubertät, wenn’s die denn ist, so nicht ausleben würden.

  15. hajo schreibt:

    Frl. Krise: wer ist verantwortlich für die Bildung dieser hoffnungsvollen Mitglieder unserer Gesellschaft im Fach Deutsch? 😉
    (Gensefleisch mal den Gofferraum aufmachen!!!)

  16. zweitblick schreibt:

    macht immer wieder Freude hier zu lesen:-)

  17. KC schreibt:

    und ich rege mich über das mangelhafte lateinische Ausdrucksvermögen auf…. 😀

  18. Stefan K. schreibt:

    Frl Krise: Sie sind zu bescheiden, dass Sie nicht auf Ihr Interview bei Radio Fritz verlinken…! 🙂
    http://trackback.fritz.de/2013/01/26/trb-314-dankeinternet-filmblogs-secondhand-pidana-aufschrei-frl-krise/
    Faszinierend, mal ihre Stimme zu hören!! … und natürlich sehr interessant, was Sie für Mai ankündigen 😉

  19. (UɐɹɟʇɐʞıuU)². schreibt:

    Genfehler … der kam jetzt aber gut. Habe sehr gelacht, vielen Dank!!!

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