Schneewittchen von heute…

Milay sieht aus wie Schneewittchen – oder so, wie ich mir Schneewittchen vorstelle. Sie ist dreizehn und sehr zierlich, aber sie hält sich ganz gerade und bewegt sich graziös – das lässt sie größer erscheinen. Niemals habe ich Milay kreischend durch den Flur trippeln oder schimpfend und motzend über den Hof stapfen sehen. Nein, sie schwebt durchs Leben, aufrecht und anmutig. Ihre Haare sind dicht, lang und dunkel – natürlich! Ihre Haut ist blass und ihre Gesichtszüge fast ein bisschen unscheinbar. Es gibt keine Charakternase oder aufgeworfene Lippen – alles wirkt zart und zurückhaltend.
Milay schminkt sich noch nicht, aber ich ahne, welche verheerende Wirkung alleine ein roter Lippenstift auf die Männerwelt haben könnte!
Vorerst aber weiß Milay noch nichts von alledem. Sie sitzt im Flur auf einer Bank, plaudert und lächelt, wirft ihre Haare zurück, umarmt ihre Freundin, befummelt ihr Handy und winkt mir zu.
„Hallo, geht’s Ihnen gut, Frl. Krise?“
„Danke Milay! Dir auch?“
„Frl. Krise, sie gehen Rente? Hülya hat mir erzählt, sie sind voll alt.“
„Hm…, stimmt!“
„Aber sehen gar nicht so alt aus, echt!“
Ach, die lieben Kleinen. Eins können sie alle nicht: Alter schätzen. So fühlt man sich immer im Zustand der ewigen Jugend, was sich segensreich aufs Selbstbewusstsein auswirkt, sofern man es nicht ernsthaft glaubt.
„Frl. Krise, sie sind so alt wie meine Oma! Ehrlich! Die sieht aber… Sind sie auch schon Oma?“
„Ja! Ist sie!“ Jetzt mischt sich Hülya ein. Schließlich bin ich IHRE Lehrerin und sie muss zeigen, dass sie Bescheid weiß. „Sie ist auch bei Facebook!“ führt sie mich stolz vor.
„Echt?“ Milay schaut mich prüfend an. „Wenn meine Oma bei Facebook wäre…“ Diese Vorstellung scheint sie zu amüsieren.
„Frl. Krise, haben Sie einen Mann?“
„Kinder, was wird das hier? Ein Verhör? Hast DU denn schon einen Freund, Milay?“ drehe ich den Spieß um.
„NEIN!“ Milay wirft sich verschämt zurück und versteckt sich in ihrer Haarflut.
„Sie wartet noch auf ihren Traumprinzen!“ erläutert Hülya.
„Oh je, hoffentlich muss sie dafür nicht noch hundert Jahre schlafen!“
„Wie jetzt?“ Milay taucht wieder auf. „ 100 Jahre schlafen? Niemals! Pfffff!“
Sie streicht sich die letzten Strähnen aus dem Gesicht. „Frl. Krise! Traumprinz ist heute nicht mehr wie im Märchen!“
Dann lächelt sie lieblich: „ Mein Mann muss nicht Traumprinz sein! Hauptsache, er hat guten Charakter, sieht gut aus, kommt aus eine gute Familie, hat ein Laden oder so und viel Geld!“
„Ja, und nicht vergessen: Er lebt in Dubai!“ souffliere ich.
„Genau! Woher wissen Sie?“ Milay starrt mich verblüfft an.
„Na, so ein ganz normaler Mann eben, kein Traumprinz,“ sage ich, „das weiß doch jeder!“ und gehe weiter.

Oh, oh, Milay! Wäre vielleicht besser, du fielest in hundertjährigen Schlaf und die ganze Schule mit dir…

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28 Antworten zu Schneewittchen von heute…

  1. Roland_09 schreibt:

    Wie süss…

  2. Teacher schreibt:

    Verwechseln Sie da nicht die Märchen? 😉

    • frlstreberlin schreibt:

      Naja, ob Dornröschen oder Schneewittchen… am Ende kommt immer der Prinz und küsst die Prinzessin aus dem ansonsten ewig andauernden Schlaf 🙂

      • Teacher schreibt:

        Das ist meines Wissens aber nur die Disney-Version. Ich glaube, eigentlich wollte der Prinz das tote Schneewittchen nur mitnehmen, weil sie so schön war (ab in den gläsernen Sarg), und als die Kutsche über einen Huckel fuhr, ist das im Hals stecken gebliebene Apfelstück wieder rausgerutscht, und *schwupp* war die Gute wieder da.

      • -zero- schreibt:

        Jop, so ist die überlieferte Version.

        Disney gehört eh boykottiert.

      • Teacher schreibt:

        Zero, ließ das lieber nochmal nach. 😉

      • Teacher schreibt:

        Oder bezog sich deine Antwort auf meine?

        Ist schon verwirrend, dass die Verschachtelung hier so früh endet.

    • frlkrise schreibt:

      Hm… naja…Dornwittchen oder Schneeröschen…???

  3. michael schreibt:

    > „….. und viel Geld!“

    Frauen!

  4. Herr Anton schreibt:

    Hallo Frl. Krise,
    wenn die ganze Schule in einen hundertjährigen Schlaf versinkt bevor Milay den roten Lippenstift für sich entdeckt, würden Sie ja auch 100 Jahre schlafen. Wir Wachgebliebenen blickten dann allerdings einer armen, da Krise-bloglosen, Zeit entgegen.
    Spannend wäre es schon, zu sehen wie unsere Welt in 100 Jahren aussieht. Und mit der nicht angerührten Rente aus hundert Jahren hätten Sie zumindest keine finanziellen Sorgen.
    Es grüßt Sie ganz herzlich
    Herr Anton

  5. C. Rosenblatt schreibt:

    Hm… Schneewittchen und die sieben Fragezeichen
    oder Dornröschen und der entwirrende Schlaf?

  6. nadineswelt schreibt:

    Hülya kommt mir vor wie eine Mama die mit ihren Kindern (hier: Frl. Krise) protzt… 😉

  7. Olaf aus HH schreibt:

    Das wird noch werden.
    Sie ist jedenfalls optimistisch.
    In der Hinsicht bin ch Fachmann – eine gute Freundin von mir hat auch eine „Milay“ als Tochter.
    Das wird sich gut entwickeln – mit beiden Milays. 😉
    Herr Anton: Ein sehr schöner Kommentar 🙂

  8. Inch schreibt:

    Und statt auf nem weißen Pferd kommt er im weißen Rolls? Oder reicht ein Mercedes? Weiß natürlich!

  9. bayernpauline schreibt:

    Hallo, bin ein absoluter Neuling und habe zufällig diesen tollen Blog entdeckt. Versuche jetzt zum 4. Mal einen Kommentar zu senden. Auf jeden Fall finde ich die Schneewittchen-Geschichte einfach herzerfrischend. Vielen Dank. Werde wieder reinschauen. LG bayernpauline

  10. Mascha schreibt:

    Natürlich gibt es Traumprinzen!!!!! Wenn es sie nicht geben würde, wäre das furchtbar!!! Warum sollen sich all die Prinzessinnen da draußen mit einem Verlierer abgeben? So hat der Disneygott es nicht geplant!!! Bei den Gebrüder Grimm lief es zwar oft schaurig ab, aber die sind schon lange unter der Erde. Es lebe Disneyworld!!!!

  11. Till schreibt:

    Heute bei Amazon gesehen:
    Der Altmann ist tot: Frl. Krise und Frau Freitag ermitteln [Taschenbuch]
    Was ist das?

  12. Till schreibt:

    Verdammte Cross- over- literatur!
    Was kommt als nächstes?
    Frl. Krise im Wilden Westen?
    Mann!

  13. die amme krise – abenteuer aus dem mittelalter

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