Zäppen gefällig?

„Ich will ’ne Fernbedienung fürs Leben ◄◄Rückwärts ▌▌Pause ►Play ►►Vorwärts!“
schreibt Azzize in facebook.

Eine crazy Idee eigentlich, so eine Fernbedienung…allerdings, gäbe es sie, würden unsere Schüler wohl nie mit der Schule fertig werden…oder viel zu schnell…oder…?

Eben habe ich die Klassenliste durchgesehen. Die Zeugnisse werden schlecht, jedenfalls die meisten. Viele, sehr viele bleiben sitzen.
Erkan auch schon wieder. Er ist wahrscheinlich der intelligenteste Junge unserer Klasse. Zumindest war er das einmal, inzwischen hat er das Lernen verlernt.
Wir kommen nicht mehr an ihn heran, seine Eltern sagen das gleiche. Er lacht abwehrend, wenn wir mit ihm sprechen und sagt dabei, ja, er wisse, dass alles schief laufe, aber das könne er leider nicht ändern.
Bei Aynur ist es ganz ähnlich. Sie ist eigentlich ein kluges Mädchen, aber gibt sich unglaublich ignorant, verweigert jede Arbeit, kommt und geht, wie es ihr gefällt und auch sie erreichen wir im Moment nicht.

Ich bin lange genug im Schuldienst, um zu wissen, dass für beide noch nicht alles verloren ist. Aber den kurzen geraden Weg in die Ausbildung haben sie schon verpasst.

„Echt?“ sagt Hanna vorgestern. „Bin ich letztes Jahr sitzengeblieben? Aber jetzt ist doch erst Halbjahr, oder?“
Hanna könnte auch locker den Realschulabschluss machen, aber sie arbeitet nur sehr sporadisch mit, dafür beobachtet sie alles , was um sie herum geschieht, kommentiert jede Aktion, fühlt sich ständig angegriffen und „schlägt“ hemmungslos zurück.

Diese Zeugnisse, es ist deprimierend.
Es gibt keine Rezepte für solche Jugendliche. Geduld, positive Verstärkung, klare Grenzen, dabei hohe Kompromissbereitschaft, Konsequenz, jedoch nicht um ihrer selbst willen, also Strenge und Großzügikeit im richtigen Verhältnis und im richtigen Moment, professionelle Distanz und Zugewandtheit und ganz wichtig: HUMOR! Ohne den geht einem schnell die Puste aus. Nur so kommt man weiter.
Sanktionen? Ja…die vergess ich schon nicht! Aber die große Wende darf sich von denen auch nicht erwarten.
Unterricht ist immer ein Drahtseilakt. Alles, was den normalen Schulalltag verändert, wirft uns unter Umständen sofort zurück. Projekte mit Fremden, veränderte Zeiten, Wochenenden, hohe Erwartungen in Prüfungszeiten,eine Wespe im Raum, umgestellte Stundenpläne, andere Räume, Lehrerwechsel, unausgebildete ‚Lehrkräfte‘, ein neuer Schüler, Feiertage, Ferien, eine defekte Birne im Projektor, schlechtes Wetter…das sind ja nur einige der Störfaktoren. Täglich gibt es andere und neue. Und was sich alles in den Familen, auf der Straße und an anderen Schauplätzen abspielt, weiß man in der Regel gar nicht.
Wir balancieren – einen Tag kommen wir gut vorwärts, am nächsten Tag stürzen wir ab.
Ich bitte, das nicht als Gejammer aufzufassen! So ist es nun mal und wir können es uns nicht aussuchen. Andere Berufe haben auch ihre Schwierigkeiten.

Hat nicht schon der olle Jöthe über die Lehrer gesagt: „Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg….?“

Letztendlich zählt, ob man es geschafft hat, Bindungen aufzubauen.
Bei Erkan ist es schief gegangen.
Der fällt im Moment aus allen Haltesystemen – bei Aynur sehe ich es nicht ganz so negativ.

Diese Zeugnisse aber auch…!
Was schrieb Azzize noch? „Ich will ’ne Fernbedienung fürs Leben“.

Ich stelle mir vor, ich habe sie, die Fernbedienung:
Bei den meisten Kindern aus meiner Klasse würde ich auf Pause drücken, sie könnten dann in aller Ruhe nachreifen.
Zwei müssten ein ganzes Stück zurück, sie hätten sozusagen erst mal auf Probe als Schüler gelebt und dürften nochmal anfangen, aber jetzt richtig.
Bei einem würde ich auf den Vorwärts-Knopf drücken…raus mit ihm aus der Schule, schon morgen, der würde das schaffen.

Vielleicht besser, dass es dieses Ding nicht gibt!

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26 Antworten zu Zäppen gefällig?

  1. mayarosa schreibt:

    Eine verführerische Idee. Das stimmt. Andererseits: Sind wir nicht alle ein Produkt jeder einzelner unserer Erfahrungen? Ist die Kontinuität des gestern-heute-morgen nicht Halt und Beruhigung? Könnten Ihre Kids im Pausemodus wirklich reifen oder würden sie nicht schockgefrostet und machten die Augen in einer veränderten Welt auf – in der sie ein paar Stunden, Tage, Jahre verpasst hätten? Sonntägliche Grüße. Mayarosa

  2. Ulla 39 schreibt:

    Und was ist mit Ömürcüğüm?
    Soll irgendwie lustig klingen – aber in Wirklichkeit ist doch traurig, was Sie beschreiben, bekümmert einen, gerade weil Sie Ihre Schüler so differenziert beschreiben.

    • frlkrise schreibt:

      Ömürchen braucht noch ein bisschen Zeit zum Erwachsenwerden. Aber er ist auf einem guten Weg! Bei ihm bin ich ganz zuversichtlich. Bei den Praktika hat er jetzt so positive Rückmeldungen bekommen, das hat seinem Selbstbewusstsein gut getan.
      Und er bleibt natürlich nicht sitzen!!!

  3. Hajo schreibt:

    puh,
    liebe Frl Krise, ich versteh‘ Dein Problem, aber bist Du in der Lage, die Schüler (m/w) zu backen, wie Du (oder „die Gesellschaft) es gern hättest?
    ich seh‘ zwar ein, dass einen eine solche Situation beschäftigt
    ABER: lass‘ Dich nicht davon fertig machen!
    Wie sagt schon die gute alte Tante Volksmund? „Ein jeder ist seines Glückes Schmied“. Das klingt zwar banal, aber bleibt eine andere „Interpretation“?
    Ich wünsch‘ Dir Kraft
    Liebe Grüsse
    Hajo

    • frlkrise schreibt:

      Das mit dem „Schüler backen“ ist sowieso der größte Schwachsinn!
      Ich nehme die Schüler schon immer, wie sie kommen! Die müssen mich ja auch nehmen…..

      • Hajo schreibt:

        „Die müssen mich ja auch nehmen…..“
        .. und das ist schon hart genug, oder? 😀
        Liebe Grüße und eine schöne Woche
        Hajo

  4. Liebes Frl Krise, bin durch den Spiegel-Artikel auf Ihr wunderbares Blog gefunden und habe mich im Feedreader völllig in Ihrem Blog festgelesen – bin jetzt im Juli 2010. Ein ganz tolles Blog ist das, wollte ich nur mal sagen. Viele Grüße!

  5. Katharina Maemecke schreibt:

    Sehr schöner Artikel.

  6. speybridge schreibt:

    „Erkan auch schon wieder. Er ist wahrscheinlich der intelligenteste Junge unserer Klasse. Zumindest war er das einmal, inzwischen hat er das Lernen verlernt.“
    Was also soll das Wiederholen der Klasse bringen??: Erkan wird nur noch unglücklicher und unzulänglicher – und besser wird er sicher auch nicht.
    Ich arbeite seit vielen Jahren im Bereich der Hochbegabung. Keine Ahnung, ob das bei Erkan zutrifft, aber vielleicht macht eine Überprüfung Sinn.
    Nun weiß ich natürlich auch nicht, ob diese Möglichkeit eine solche ist, aber ich habe damit schon einmal eine extrem gute Erfahrung gemacht: Ein Schüler sollte in der Hauptschule zum zweiten Mal in der 8 sitzenbleiben, obwohl alle wussten, dass der Typ es drauf hatte. Es fand sich dann Folgendes: Ein Realschuldirektor (!) erklärte sich bereit, den Schüler zu nehmen – und das gleich in Klasse 9 (!). Also: Schultyp hoch, Klasse hoch.
    Es hat funktioniert. Der Anreiz war da, Vertrauen und die Würdigung der (verborgenen) Fähigkeiten – ein Lichtblick.
    Vielleicht könnte man für Erkan irgendetwas Entsprechendes finden. Der geht doch sonst vor die Hunde.
    Viele (hoch-)begabte Kinder werden schlechte Schüler: Warum soll man sich anstrengen, wenn es nichts gibt, das den Einsatz lohnt? Die können irgendwann einfach nicht mehr.
    Bitte fallt jetzt nicht alle über mich her …

    • frlkrise schreibt:

      Er wird nicht wiederholen, er wird wieder (!) mitgehen in die nächste Klassenstufe! Unsere Schüler gehen alle weiter mit.. sie können das nämlich mit ihren Eltern selbst entscheiden.
      Das Wiederholen bringt auch meist nicht viel, da gebe Ihnen völlig recht.
      Und: Nicht jeder Schüler, der sitzenbleibt, ist hochbegabt…

      • speybridge schreibt:

        Nein, natürlich nicht, um Gottes Willen! Aber irgendetwas an Ihrem Satz hat mich aufhorchen lassen.
        Dass er nicht sitzenbleibt, ist sicher gut. Ihn mal ein bisschen auf „Mehr“ zu provozieren, mal einfach so, ist vielleicht einen Versuch wert.

      • fraufreitag schreibt:

        das ist DIE Lösung – alle unsere Schüler auf die Gymnasiumschule!!!! Vielleicht sind die ALLE hochbegabt!

      • Hajo schreibt:

        @ fraufreitag: so gehts nicht, probieren wir’s mal anders, vielleicht geht’s so auch nicht 😉

    • Smilla schreibt:

      Ich traue mich mittlerweile, zu postulieren: Schulerfolg besteht zu 50% aus strategischem Denken und zu 50% aus Fleiß und dann muss man auch noch strategisch Denken und Fleiß aufbringen WOLLEN. Wenn einer oder eine nicht will, dann geht sowieso gar nix, ob mit Sitzenbleiben oder ohne. Für solche Fälle hätte ich dann tatsächlich gerne den Pause-und-nachreifen-Knopf oder den Vorspulen-bis-zu-dem-Moment-wo-der-Herr-Hirn-vom-Himmel-schmeißt-Knopf.
      Was für ein Jammer, dass es das nicht gibt!

  7. Halab schreibt:

    Auch wenn ich jetzt vielleicht in die depressive Wurzel schlage: Auch ich habe mir als Kind ein- oder zweimal eine Fernbedienung gewünscht. Einfach mit meinem jetzigen Wissen noch einmal ab der ersten Klasse anfangen und ohne Anstrengung durch die Schuljahre zu flutschen…:-)
    Nein, im Ernst. Meine Vorrednerin hat Recht. Man würde in einer fremden Zeit aufwachen und sich nicht mehr zurecht finden. Vielleicht ist es alleine deshalb schon gut, dass es keine Zeitreisen gibt.
    Obwohl ich persönlich sofort an einer teilnehmen würde:-)

  8. michathecook schreibt:

    Zum Glueck gibt es diese Fernbedienung fuers Leben nicht.
    Ich habe auf meinem Weg durchs Leben ein paar herbe Rueckschlaege erlebt die ich niemandem wuenschen wuerde.Trotzdem bin ich froh ueber alle diese Erfahrungen und Erlebnisse da diese wesentlich zu meiner Entwicklung und meinem persoenlichen Fortschritt beigetragen haben.

    Versuchen sie nicht die ganzen Probleme der Welt alleine zu loesen .Das kann nur schief gehen und fuehrt zu einer grossen Frustrations Menge.

    Alles Gute von mir fuer sie, die Schueler und den Lebensweg derselben.

  9. Früher nannte man das Zeitreise – und es hat in allen Büchern/Filmen stets mehr Probleme verursacht als gelöst. Und wer sollte die Fernbedienung bedienen? Weiß derjenige, wann die Pause beendet ist, bis wohin vor- oder zurückgespult werden soll? Ich glaube nicht! Der Gedanke Ihrer Schülerin wäre doch eine gute Idee für ein Projekt.

  10. lovelifematters schreibt:

    http://de.wikipedia.org/wiki/Klick_(Film)

    Ich bin irgendwie schon ganz froh, dass es diese Fernbedienung nicht wirklich gibt. Manchmal würde ich gern nochmal in die Vergangenheit schauen, aber ganz ehrlich, das Leben ist eh viel zu kurz, da wäre vorspulen „voll assi“, wie man in meiner Heimat sagen würde.
    Mal schauen, ob und wann die beiden sich wieder besinnen 🙂
    Wie läuft eigentlich Ömürs Diät? 😀

  11. Karl Eduard schreibt:

    MIt so einer Fernbedienung würde ich in die Schulzeit zurückreisen und es besser machen. Als Erwachsener merkt man es erst, was für ein unglaublicher Idiot man in der Jugendzeit war. Aber dann sind die Messen gesungen.

    • Smilla schreibt:

      Ja, und leider ist man als Jugendlicher lange und unwiderlegbar davon überzeugt, dass alle anderen, insbesondere Eltern und Menschen mit einer gewissen Lebenserfahrung, unglaubliche Idioten sind, denen man weder zuhören noch vertrauen darf.
      Natürlich gibt’s viele Wunderwuzzis, die sich tatsächlich jede Menge blutige Nasen ersparen, indem sie gelegentlich auf ihre Eltern hören – aber die Klientel, die mir Sorgen macht, tut das aber garantiert sicher hundertprozentig nie und nimmer. *argh.

  12. Polly schreibt:

    Ein Filmtipp für Azzize: Es gibt da einen -Hollywood Mainstream – Film mit dem Titel „Klick“, in der die Hauptperson genau so eine Fernbedienung hat. Aber nach vielen mehr oder weniger amüsanten Verwicklungen und einem zum großen Teil überspulten Leben (Streit mit der Ehefrau, lästige Theateraufführungen der Kinder in der Schule, Stau auf dem Weg zur Arbeit ect.) ist die Moral von der Geschicht am Ende des Films selbstverständlich: Genieße lieber jede Sekunde deines Lebens, erkenne, was wirklich wichtig ist und gestalte selbst. Auch über platte Filme lässt sich ja gut diskutieren.

  13. cb schreibt:

    Meiner Meinung nach ein grosses Problem heutzutage: Es fehlen Vorbilder die Werte vermitteln.

    Vorbilder, um den Sumpf zu verlassen, sind die, welche über Nacht reich und berühmt werden (Superstar, Sportler usw etc) oder „get rich or die tryin“ ….. der leichte Weg führt zum ersehnten Erfolg.

    Wieso sollte Erkan sich anstrengen und lernen? Wo sind seine Vorbilder die ihm zeigen das anstrengen und lernen zum Erfolg führt? Warum sollte Erkan lernen und sich anstrengen um nachher bis zur Rente zu arbeiten wenn er doch reich und berühmt werden will und nicht das Leben seiner Eltern führen?

    Wie soll die Schule gegen solche Bilder ankommen?

    Pause wäre doch nur Stillstand. Besser wäre die Möglichkeit solche ins kalte Wasser zu schmeissen …. und wenn sie es begriffen haben dürfen sie wiederkommen und nochmal anfangen.

  14. Carolin Engel schreibt:

    Seit einigen Tagen lese ich hie regelmäßig mit und bin zunehmends begeistert und beeindruckt. Ich wäre angesichts der diversen Konfrontationen wahrscheinlich bereits geplatzt oder hätte Dinge an die Wand geworfen.

    Bei diesem Artikel musste ich spontan an den Film CLICK denken und daran, dass es manchmal besser ist, nicht alles auf Wunsch ändern zu können.
    Weiterhin viel Erfolg wünscht
    Caro

  15. reiseengel schreibt:

    Ich hasse zäppen – geht alles viel zu schnell und ist obrflächlich, bekomme dann von allem nur ein Teil mit. Aber die Vorstellung, statt durch das Fernsehprogramm durch mein Leben zu zappen, ist eigentlich erschreckend. Noch mehr Kontrolle als jetzt schon und allein die Vorstellung, jemand könnte meine Fernsteuerung klauen und mich einfach wegzäppen….

    Die Idee von Elvira finde ich übrigens super – ein Projekt aus dem Thema machen – bietet doch gigantische Möglichkeiten!

  16. ska schreibt:

    >>Es gibt keine Rezepte für solche Jugendliche<<

    Es gibt keine Rezepte PUNKT … Leben, lernen, Pädagogik. Menschen. Balancieren, Drahtseilakt. Aber wissen Sie ja alles. Schön. Traurig. Gut so. Manches nicht.

  17. teachert. schreibt:

    Wenn ich bedenke, wie unglaublich viel Kraft, Zeit und Energie ich als ausgebildete Lehrerin in den Schul- und damit Lebenserfolg meiner beiden ADS Kinder stecken muss, ist mir vollkommen klar, warum so viele Kinder in unserem Schulsystem scheitern. Schule hat noch nicht die Antworten gefunden, die gebraucht werden, um der heutigen Zeit und der heutigen Schülergeneration Rechnung zu tragen. Also müssen sich entweder die Eltern, durch den Therapie-, Test- und Behördendschungel kämpfen und nebenbei noch täglich stundenlang zu Hause üben, oder die Kinder scheitern grandios. (Dies soll KEINE Lehrerschelte sein, denn ich weiß ja, wieviel Herzblut Frl Krise in die Schule steckt. Dennoch müsste vieles strukturell anders werden, wenn man keine Kinder mehr auf der Strecke lassen wollte..)

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